Der Löwe geht am vollen Mond

 

Zum Tod meines Vaters

 

Es heißt, ein unerwarteter Tod eines nahen Menschen sei schwerer zu ertragen,

der Plötzlichkeit wegen und der Unvermitteltheit,

aus dem Leben herausgerissen zu werden sei erbarmungsloser für die Angehörigen, für das Leben.

Die Entwurzelung eines Baumes ein klaffendes Loch hinterlassend, sichtbarer und dunkler.

 

Ich habe gelernt, dass es mitnichten so ist.

Mein Vater starb neun Monate lang, die Dauer also, die der menschliche Embryo braucht um den Weg in

die Eigenständigkeit zur Welt zu finden. Mensch sein.

Eine Schwangerschaft lang.

 

Das langsame Sterben, lange nicht gewiss ob der Tod an letzter Stelle steht, oder ob es eine Wendung gibt,

eine Genesung vielleicht, 

mit gelassenen Federn zwar, aber doch eine Gesundung, die eine gewisse Autonomie und Teilhabe ermöglicht.

 

Begleitung.

 

Eine Operation am Rücken, letztlich war sie überflüssig, weil auch eine angemessene Schmerzbehandlung eine Lösung bedeutet hätte.

Ich erinnere mich. Er war zuversichtlich. Die Hoffnung da endlich wieder schmerzfrei zu sein.

Einen Arzt gefunden zu haben, der diesen Eingriff vornimmt. Einen Professor.

Seinen Wagen wieder fahren können vor allem. Und reisen.

Und seine Schwäche für Ausflüge zu guten Restaurants.

 

Ein Jahr her sein Tag des Todes. Einen vollen Mond gab es an jenem Tag.

Ein sonniger Apriltag. Mild.

 

 

Erinnerungen:

 

Heidelberg, die erste Operation. Sommertage.

Ein bisschen Kurzurlaub, ein bisschen Krankenbesuch. Nicht alleine!

Froh, ihn auf dem Weg zur Besserung zu sehen.

Das geräumige Zimmer in dieser vornehmen Klinik, das elegante Foyer, der Optimismus.

Seiner und unserer.

Aufwärts! Und Aufatmen. Und allgemeines Vertrauen.

 

Die Schmerzen nach der Entlassung.

Und die Angst vor den Schmerzen.

Seine Schreie. Nicht laut.

Die Schreie eines alten Mannes.

 

Was folgte waren Odysseen.

Worms, Krefeld, wieder Heidelberg, wieder Worms.

Jahreszeiten.

Besuche bei Kälte mit fallendem Laub, neblige Wintertage, erste Frühlingsanfänge.

Es gab Bahnhöfe, Flughäfen, Umsteigen, Hotels, Übernachtungen,

Fußgängerzonen, Quartier bei Bruder oder Beate.

Diese Reisen mit immer schwererem Gemüt und kleinem Gepäck.

Mein mich mehr und mehr verloren fühlen in zugiger Luft.

An unterschiedlichen Orten.

Das Heimkommen nach U-Bahnfahrten in einem Wagon mit den Touristen, mit dem Partyvolk

und den anderen. Meine Wohnung. Eine Müdigkeit. Endlose Heimkehr.

Und kein " Endlich wieder zuhause!"

 

Kleines Gepäck.

 

Es gab die Gespräche mit Spezialisten, Therapeuten, es gab freundliches,

es gab kühl-routiniertes, es gab umsichtiges und es gab grobes Personal.

Es gab Therapiepläne.

Es gab Gespräche mit meinen Geschwistern, mit Beate auf sterilen Fluren.

Mutmaßungen, kleine Hoffnungen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht!

 

Nur, das was ich sah, war etwas anderes.

Ich sah keine Entwicklung zur Gesundung.

Ich sah ihn jedes Mal in schlechterer Verfassung, in schwächerem Zustand.

Habe mich schuldig gefühlt, meine Zuversicht mehr und mehr zu verlieren.

Zuversicht - das ist doch elementar für Heilung! Der wollte ich doch nicht im Wege stehen!

Es braucht ja Zeit!

Und auch Schwung!

Und ich sah mit ihm auf Youtube Videos von Simon und Garfunkel und Boney M.

 

Dann. Künstliche Eingänge, künstliche Ausgänge.

Weniger Worte. Von Mal zu Mal

"Warum gehst du denn schon wieder?"

Dieser Satz traf mich tief.

Wann wurde mir diese Frage zum letzten Mal gestellt?

Diesen Gedanken hatte ich. Und konnte mich nicht erinnern.

 

Das Pflegeheim. Letztendlich. Austherapiert. Sein stoischer Lebenswille.

Alles ertragen. Einfach immer weitergelebt.

Ernst und geduldig.

Keine Klagen vor allem. Das war wahrlich doch untypisch für ihn, oder?

Oder nicht?

Man lernt neue Seiten kennen. Am Ende.

Es gab einen CD Player und wir hörten zusammen Nana Mouskouri.

Das Zimmer war mit Farben, die Vorhänge, die Blumen. Der Blick aus dem Fenster - ein mehr und 

mehr blühender Baum.

Und ich fragte ihn: Siehst Du die Blüten vor deinem Fenster?

Und er schüttelte den Kopf.

Und ich bürstete ihm die weißen Haare.

 

Mein Umzug in den Harz. Alles zurücklassen. Idee eines Neubeginns.

"Papa, ich wohne jetzt im Harz!

Warst Du schon mal in Hahnenklee?"

Er nickt, ist aber zu schwach zu sagen wann.

 

Corona. Der Lockdown, 2 Tage vor meinem geplanten Besuch.

Nichts mehr. Es war ziemlich klar, was das bedeutet.

Das Telefon. Schweigen. Mir gelang kein aufmunterndes "Hallo"

Keine aufmunternden Worte.

Erstrecht kein Plaudern über Neuigkeiten.

Zumal es auch keine gab.

 

Schweigen. Betretenheit.

"Gell, du willst nicht telefonieren"

"Eigentlich nicht"

Unser letzter Dialog. Sein "eigentlich nicht"

 

Der Tod nach 3 Wochen Lockdown.

Und wenn ich, was Corona- Maßnahmen betrifft, nicht wirklich eine feste Meinung habe, so bin ich mir doch sicher,

dass das Abschotten von Pflegeheimen eine Entmündigung alter Menschen darstellt, die regelrecht sündhaft ist.

Den Menschen das Recht zu nehmen eine Entscheidung zu treffen ist Sünde und eine Form von Gewalt.

 

Wie viele Milliarden sind schon rausgehauen worden für Hilfe, und man hätte die Möglichkeiten gehabt Besuche zu ermöglichen,

man hätte zwei unterschiedliche Stationen machen können, für Menschen, die sich für Schutz entscheiden, und eine andere für Patienten,

die ihre Angehörigen weiter sehen möchten. Zum Beispiel.

Isolation als Schutz. Das ist absurd für Sterbende.

Mein Vater war außer sich, so heißt es, als er erfuhr, dass seine Frau ihn "vorerst" nicht mehr besuchen kann.

Beate, die Tag für Tag für ihn da war und ihm Begleitung gab.

 

Er starb ohne einen von uns an seiner Seite.

 

Und ich saß in meiner Wohnung weit weg von allem Bekannten.

Telefongespräche. Billiger Ersatz. Das Pferd hatte kein neues Haar.

 

"Es war ja absehbar!"

"Er ist erlöst!"

Ach, was habt Ihr denn begriffen?

 

Vor ein paar Monaten habe ich eine Musik geschrieben.

Es soll einen gesprochenen Text geben dazu über unsere Kurzurlaube die wir unternommen hatten einmal jährlich im Juni.

Meistens an die Ostsee.

Aber es geht noch nicht. Zu ungeschützt um darüber schreiben zu können.

Um Erinnerungen zu formulieren über das Leben mit ihm.

 

 

Ich weiß, es hätte ihm gefallen hier.

Im letzten Sommer fuhr ich oft an den Innerste- Stausee, wenige Kilometer von hier.

Und von der Terrasse des Berghotels sah ich auf's Wasser, die Segelboote.

Da war ich ihm nah.

Vielleicht macht ja das Restaurant wieder auf in diesem Sommer.