"Da musst du aufpassen, Mim!"

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Glücklicherweise gehöre ich nicht zu den Menschen, die viele Filme sich ansehen und so bleiben die wenigen, die ich mir aussuche anzuschauen, noch tagelang in Erinnerung und sie können nachschwingen.

Letzte Woche sah ich mir einen Film über einen Fotografen an, der in Kriegszeiten Kinder in Sarajevo fotografierte und sie im vergangenen Jahr aufsuchte, um zu erfahren wie es ihnen zwischenzeitlich ergangen ist.(KINDERFOTOS AUS SARAJEVO, Arte)

 

Ich erinnere mich an Indir, den ich 1996 in meinem damaligen Wohnort kennenlernte. Wir kamen ins Gespräch im letzten Bus (dieser fuhr um 19.19 Uhr!) 

und er erzählte, dass er seit kurzem in Deutschland sei und bosnischer Kriegsflüchtling.

Wir verstanden uns auf Anhieb gut und wir haben seitdem eine Menge Abende miteinander verbracht.

Ach, all die ganzen Diskussionen mit all den Zigaretten und all dem schwarzem Tee!

Bevor ich ihn kennenlernte war ich, für provinzielle Verhältnisse, relativ gut informiert über den ersten Krieg auf europäischen Boden seit Ende des 2. Weltkrieges.

Ich hörte den hessischen Rundfunk und ich erinnere mich an die vielen Berichte über die jahrelangen Belagerungen von Bihac und Sarajevo.

Berichte über Lager, über Erschießungen, Kriegsverbrechen und Gewalt gegen Frauen.

Und diese unerträgliche Zögerlichkeit der Nato und die zahnlosen Tiger der Blauhelme.

 

Aber was das alles wirklich bedeutete, erfuhr ich erst durch Indir.

 

Indir lebte vor dem Krieg mit seinen Eltern in der bosnischen Stadt Banja Luka, der Vater betrieb ein großes Café in der Innenstadt,

Indir selbst war Musiker und tourte mit seiner Band durch das Land.

Er konnte gut davon leben und mit Mitte 20 war er äußerst attraktiv und gutaussehend und so lagen ihm die jugoslawischen Mädels zu Füßen...

Er stand voll im Leben und  schwärmte oft von der schönen Stadt an dem Fluss Vrbas mit seinen Schluchten und dem blauen, klaren Wasser,

und den Bergen um der Stadt.

Banja Luka, bekannt durch ihre multikulturelle und multiethnische Gesellschaft, wurde nach dem Krieg im Dayton-Abkommen zur serbischen Enklave. 

Es wurden16 Moscheen gesprengt mitunter Weltkulturerbe. Die Kriegslinie führte mitten durch die Bevölkerung.

Die Bosnier wurden während des Krieges aus Banja Luka vertrieben oder aber in Lager deportiert.  

 

Die Feindseligkeit blieb lange bestehen und auch heute nach 25 Jahren ist Frieden nicht wirklich zurückgekehrt.

Ethnien stehen sich weiterhin misstrauisch gegenüber und es kommt noch immer zu Gewalt.

 

 

Was Indir am meisten erschütterte und fassungslos machte war, dass Nachbarn, Freunde, Kollegen,

die vorher nicht nur friedlich miteinander lebten, sondern sich sehr nah waren, jetzt aufeinander losgingen und sich gegenseitig umbrachten.

Wegen nichts!

Alles was vorher völlig unwichtig war, Herkunft und Religion, führte zu Konflikten, zu Mord, Vertreibung und Feindschaft.

Und zwar plötzlich, unerwartet, von heute auf morgen sozusagen.

Und das, weil es ihnen befohlen wurde.

Aus diesem einzigen Grund.

 

Darüber hat er oft gesprochen, er sagte, dass wenn es in Banja Luka passieren könnte, dann könne das überall passieren.

"Da musst du aufpassen, Mim!"

 

Seine Eltern kehrten nie mehr in ihre Stadt zurück. Sie wurden enteignet und ein Nachbar und ehemaliger Freund der Familie

bekam  ihr geliebtes Café zugesprochen.

Sie wollten sich nicht das für immer Verlorene ansehen.

Sie kamen allerdings auch - wie man sagt- nie an in Deutschland. Sie sind irgendwo auf der Flucht verloren gegangen.

Diese durch und durch herzlichen Menschen haben nie verkraftet, was ihnen zugestoßen ist,

wagten nie mehr auch einen noch so kleinen Neuanfang, und sie leben heute noch, nach 25 Jahren, isoliert und ohne geringste Deutschkenntnisse

in diesem 4000 Seelen- Städtchen am Rande Nordhessens. 

 

 

Indir hat eine Familie gegründet, wohnt ebenfalls noch in Großalmerode, aber Musik hat er nie mehr gemacht. Er sagt, das rühre zu sehr an alten Wunden.

 

PS: Der Song im Nachspann des Filmes heisst "Burst out" und ist von Jean Paul Dupeyron, ausschließlich auf Youtube zu finden, und 

ist einer der besten Songs, die ich seit Jahren gehört habe.